Das fünfte Amulett: Die Prophezeiung

Verschiedene Welten, die nebeneinander existieren. Verschiedene Kräfte, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Ein Ziel, das alle vereinen sollte: das zerbrechliche Gleichgewicht zu halten.

Auf welche Welt und auf welches Talent du initiiert wirst, liegt nicht in deiner Hand. Schon als Kind entscheidet das Tribunal, mit welcher Gabe du ausgestattet wirst: Beherrsche das Feuer und lebe bei den Echsen, bezwinge die Kälte und folge dem Ruf der Wölfe, lenke die Winde auf der Schreienden See oder beherrsche den Keim des Lebens bei den Baumläufern.

Teodora wünschte, ihr wäre das Schicksal aus der Hand genommen und sie einem der Amulette zugeteilt worden. Doch diese Wahl hatte sie nicht. Ihre Eltern hielten sie und ihren Bruder versteckt – zu ihrem eigenen Schutz, wie sie sagten. Jetzt sind sie beide verstorben und Tea und Liam auf sich gestellt. In der Wildnis zu überleben erscheint wie ein Kinderspiel, verglichen mit dem, was sie in der Zivilisation erwarten soll. Aus der Not heraus vertraut sich Tea einem attraktiven Fremden an, der ihr helfen will, ihr Recht auf die Initiierung einzufordern. Doch Garvin pflegt mehr Geheimnisse, als Tea lieb ist. Und auch Nexus, der so ganz anders als Garvin tickt, spielt nicht mit offenen Karten. Bevor sie weiß, ob sie dem richtigen Weg folgt, überschlagen sich die Ereignisse. Auf einmal passieren Dinge, die größer sind als all das, woran sie einst geglaubt hatte. Und es ist nicht nur ihr Schicksal, das in der Waagschale liegt

Leseprobe

Der Druck lastete schwer auf ihren Schultern. Was, wenn sie die Prophezeiung falsch verstanden hatte? Was, wenn sie dadurch ihr eigenes Leben zerstörte? Oder noch schlimmer: Was, wenn sie dadurch das Leben Unschuldiger in den Ruin trieb? Sie blickte zu dem hochgewachsenen Mann an ihrer Seite, der stoisch einen Fuß vor den anderen setzte. Ihr Herz quoll über vor Liebe. Entschlossen schob sie ihre Ängste von sich; verbarg sie tief in ihrem Innern. Er hatte zu ihr gehalten, ihre Aussage nicht infrage gestellt. Er hatte es hingenommen, dass sie ihrer Leben über den Haufen warf, den Bruch mit Familie und Traditionen einforderte – und das, ohne einen handfesten Grund als Gegenleistung dafür zu erhalten. Das Einzige, worauf er vertraute, war ihr Wort – oder vielmehr die Worte, die ihr das Orakel vor vielen Jahren verkündet hatte. Sie zog den Mantel enger um ihre Taille und griff seinen Arm, als sie durch den dunklen Wald stolperten. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass dies bald ihr neues Zuhause sein sollte: eine abgeschiedene Hütte mitten im Wald, mitten im Nirgendwo. Doch Martin hatte den Platz sorgfältig ausgewählt. Tag um Tag hatte er damit verbracht die kleine Lichtung zu sichern, die Runen ausgewählt zu platzieren, zu stärken, die Energie der Erde zu absorbieren und einen natürlichen Schutzschild zu bauen. Um diesen Ort zu erschaffen, hatten sie nur nah genug an den Rand der Welt gemusst. Dorthin, wo die Magie in voller Fülle pulsierte. Auf diese Weise ging die Kraft der Natur im Strom der Partikel unter. Niemand würde sie aufspüren können oder ein Beben in der Atmosphäre bemerken. Sie schauderte bei dem Gedanken daran, was ihnen blühte, wenn herauskam, dass sie gegen das System rebellierten. Es gab einen alten Spruch, der besagte, eine Schwalbe mache noch keinen Sommer. Allerdings wurde schon das kleinste Aufkeimen von Ungehorsam im empfindsamen Gleichgewicht dieser Welten mit dem Todesurteil bestraft. Doch Nachahmer sollten die kleinste Sorge des Systems sein. Würde auch nur irgendwer ahnen, wie sehr ihre Schwalbe den Sommer umzukrempeln gedachte, dann würde ihr Schutz wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen. Sie ließ ihre Hand in Martins gleiten. Tröstlich spürte sie den Druck seiner Finger auf ihrer Haut. Es versprach, dass sie es bald hinter sich hätten. Ihr Blick glitt zu dem hellen Schopf ihrer Tochter, die selig auf dem Rücken ihres Vaters schlummerte. War sie bloß ein Opfer des Bauern oder würden die Beweggründe ihrer Mutter auch für das Mädchen bedeutsam sein? Erneut ließ sie sich die Prophezeiung durch den Kopf gehen. Sie durfte nicht falschliegen. Es gab so viele Unwägbarkeiten, die sich ihr noch nicht erschlossen. Doch der Weg war bereits eingeschlagen. Sie musste ihn zu Ende gehen. Und selbst dann konnte sie nur zu jeglichen Elementen beten, dass sie sich richtig entschieden hatte.

Die Stille war unerträglich. Sie umhüllte mich wie eine feste, stickige Decke, die mir kaum Luft zum Atmen ließ. Es war inzwischen weit nach Einbruch der Dämmerung. Unsere alte Uhr auf dem schiefen Kamin hatte bereits vor Tagen den Geist aufgegeben. Verfluchte Technik. Wollte ich die Uhrzeit bestimmen, so musste ich raten. Doch meine innere Unruhe ließ mir schon wenige Minuten wie Stunden vorkommen. Ich traute mir keinerlei Mutmaßung zu. Angespannt rutschte ich auf dem Küchenstuhl hin und her und blickte zu dem Topf auf dem Herd, in dem die Suppe leise vor sich hin blubberte. Das Abendessen kochte ein – sie waren zu spät. 

Fakt war, sie waren viel zu spät. So lange ich denken konnte, hatte mein Vater noch nie eine Mahlzeit verpasst. Und dieses Mal warteten wir schon eine Weile; saßen am Tisch, als ob wir jeden Moment zugreifen und uns die tiefen Teller befüllen wollten. Wie auf Kommando grummelte Liams Magen vernehmlich und ich warf meinem Bruder über den hölzernen Tisch hinweg einen fragenden Blick zu. Doch der Neunjährige schüttelte trotzig den Kopf. Er wollte auf unsere Eltern warten, so, wie wir es immer taten. Seufzend lehnte ich mich gegen die geflochtene Rückenlehne des Stuhls und betrachtete ihn. Er war für sein Alter recht groß; schmal und sehnig von dem ganzen Training im Wald. Seine Haut war gebräunt und goldene Pupillen funkelten unter den fast schwarzen Locken hervor. Jetzt aber blickten die sonst so frechen Augen zur Tür – nervös. Ich konnte es ihm nicht verübeln. Der Bunte Markt schloss zur sechsten Stunde. Die im Winter recht frühe Dunkelheit zwang Aussteller wie Besucher zu einem zügigen Aufbruch, sodass es für das Fernbleiben meiner Eltern keine gute Erklärung gab. Selbst wenn man ihrer Reisezeit noch eine großzügige Portion Trödelei hinzufügte, war sie weit überschritten. 

Natürlich war es nicht das erste Mal, dass etwas dazwischenkam. Doch bisher waren unsere Eltern stets rechtzeitig vor Einbruch der Nacht heimgekommen. Dazu kam dieses dumpfe Gefühl in der Magengegend, dass mich einfach nicht losließ. Konnte es eine Vorahnung sein? Mein Inneres zog sich allein bei dem Gedanken daran zusammen, dass unseren Eltern dort draußen etwas zugestoßen sein könnte. Ein weiterer Blick zu Liam zeigte mir, dass ich mich zusammenreißen musste. Er lugte immer wieder unauffällig in meine Richtung und schien seine eigene Hoffnung an meiner Mimik festzumachen. Ich verdrängte den Kloß in meinem Hals. Ich war die Ältere und sollte ihm die Ruhe geben, die ich selbst nicht verspürte. Meine eigenen Sorgen beiseiteschiebend, klatschte ich energisch in meine Hände. Das laute Geräusch hallte in meinen eigenen Ohren wider – aufdringlich und etwas unpassend.

«Liam, genug gewartet – wir essen jetzt. Mama und Papa werden es sicher verstehen. Gerade Paps hasst kaltes Essen und wer zu spät kommt, den bestraft ja bekanntlich das Leben.»

Liam zögerte, als ich aufstand. Trotzdem ging ich zur Suppenkelle und füllte die Teller mit dem köstlich riechenden Eintopf. Es widerstrebte ihm sichtlich, dass ich ihm die dampfende Suppe vor die Nase stellte und mich mit meiner eigenen Portion ihm gegenüber niederließ. Schließlich jedoch siegte der Hunger.

«Meinst du, sie kommen später wieder zurück? Vielleicht ist ihnen ja nur die Achse gebrochen und der Handkarren steckt irgendwo in einem Erdloch fest.»

Ich nickte bestätigend und schob mir vorsichtig einen Löffel Eintopf in meinen Mund. Unter keinen Umständen wollte ich diesen hoffnungsvollen Unterton in der Stimme meines Bruders im Keim ersticken. Aber die Erklärung war unwahrscheinlich. Vater und ich hatten den Bollerwagen gewartet, kurz bevor er gemeinsam mit meiner Mutter zum Bunten Markt gefahren war. Der Bunte Markt fand nur vier Mal im Jahr statt und die Einnahmen konnten wir uns nicht entgehen lassen. Ein Achsenbruch würde eine Katastrophe bedeuten und hätte drei darbende Monate für uns zur Folge. Dabei war ein Achsenbruch nichts im Vergleich zu dem, was mir selbst durch den Kopf schoss. Der Bunte Markt hatte seinen Namen immerhin nicht von ungefähr. Alle Angehörigen der vier verschiedenen Amulette nahmen daran teil und es war ein emsiges Treiben, ein reges Kommen und Gehen. In der Vergangenheit hatte es schon den ein oder anderen Überfall auf Händler oder Reisende im Umland gegeben. Ware und Geld wurden gestohlen, Vieh und Dokumente entwendet und Menschen verschwanden (wenn man sie denn nicht gleich mit durchgeschnittener Kehle im Straßengraben vorfand). So lange ich denken konnte, gab es Plündereien. Doch niemand fühlte sich verantwortlich, etwas dagegen zu unternehmen. Für die Scherereien innerhalb der einzelnen Welten war jedes Amulett selbst zuständig. In diesem Fall erwies es sich als äußerst ärgerlich, dass wir uns auf dem Territorium der Baumläufer befanden. Immerhin gab es kein friedvolleres Amulett. Jede Auseinandersetzung wurde bestrebt harmonisch geregelt. Nur leider interessierte dies die Plünderer nicht. Im Gegenteil: Meiner Meinung nach lud sie dieses Land sogar ein, ihr Unwesen hier zu treiben. Und das Tribunal schaute weg. Das Einzige, was ihr Interessensgebiet tangierte, war das Gleichgewicht der vier Erdplatten zu bewahren.

 

Ich wurde jäh aus meinen Gedanken gerissen, als Liams Löffel mit einem Scheppern in den Teller fiel. Er schob die Schale von sich, jedoch nicht ohne noch einmal nachzufassen und die letzten Reste am Stiel abzulecken. Ich deutete auf den Kochtopf, erntete aber ein Kopfschütteln. Schon klar, der Rest der Suppe galt unseren Eltern. 

«Gut, wenn du mit dem Essen fertig bist, dann schau, dass du dich bettfertig machst. Ich erledige in der Zwischenzeit den Abwasch und dann komme ich hoch. Der Tag war lang.»

«Ich will aber warten, bis sie zurück sind.»

«Liam, es ist spät und morgen früh müssen die Einkäufe gerichtet und das Vieh versorgt werden. Ganz zu schweigen von deinem Training. Ich glaube nicht, dass Mama und Papa dafür Verständnis haben, wenn du nicht aus den Federn kommst. Wenn du willst, wecke ich dich, wenn sie da sind.»

Mit diesem Kompromiss schien Liam leben zu können, denn mit widerwilligem Schnauben schob er den Stuhl nach hinten und lief leichtfüßig die schmalen Stufen der Treppe hoch. Ich hörte, wie die Badezimmertür zufiel und das Wasser anfing zu sprudeln. Seufzend räumte ich die beiden Teller zusammen und stellte sie in die Spüle. So lange Liam das Wasser anließ, würde ich mit dem Abwasch warten müssen. Unser Haus war sehr alt und mein Vater hatte die Leitungen selbst verlegt. Wir wohnten so abgelegen, dass Elektrizität für uns ein Luxus war, den wir im Alltag nicht kannten. Nicht, dass die Technik auf den vier Erdplatten weit fortgeschritten wäre. Dafür war alles zu instabil – der Boden, die Atmosphäre und die Verteilung des Netzes. Den Luxus von Wasser jedoch, den hatte mein Vater uns trotzdem ermöglicht. 

Unser Haus lag eine Tagesreise von Ahern entfernt, dem geistigen Zentrum der Baumläufer. Eigentlich nahe genug an der Zivilisation, als dass man uns hätte entdecken können – offenbar aber weit genug weg, um von der Stromversorgung und Außenwelt abgeschnitten zu sein. Mein Vater pflegte zu sagen, dass der tote Winkel oft direkt vor den Augen der Suchenden lag. Damit schien er richtig zu liegen. In diesem Fall befand sich der tote Winkel – inklusive unseres Hauses – in einem dichten Mischwald, dessen Besuch keinerlei Mehrwert bot. Der Wald bedeckte ein Viertel von Alberos, der westlichsten Erdplatte, und reichte weiter gen Westen hin bis zum Ende unseres Landes. Er war Heimat so einiger Raubkatzen, Wolfsrudel und sogar Bären, die hier ihre Ruhe fanden. Wohin auch sonst sollte man sich zurückziehen, wenn sich die Wildnis verkleinerte? Obwohl niemand die Natur mehr achtete als wir – das Volk der Baumläufer –, so stieg die Population seit Jahren an.

Schaffte man es, das Dickicht des Waldes lebend zu überwinden, und erreichte man tatsächlich das Ende des Amuletts, so sah man schließlich den Himmel. Zumindest konnte ich die endlose Weite nicht anders benennen. Sie glich unserem eigenen Firmament, bloß, dass es sich in alle Richtungen auftat. Vor einigen Jahren hatte mich mein Vater bis zum Rande der Welt getrieben und der Anblick hatte mich sprachlos gemacht. Es war schlichtweg atemberaubend gewesen. Der Wald endete damals abrupt; steile, erdige Kliffe ragten hinab in die Tiefe. Meine Augen hatten deren Ende nicht ausmachen können. Und rundherum war es ganz blau. In der Dämmerung färbten unsere Sonnen die Wolken rosa, Vögel stießen in die unendliche Weite und der Wind riss an meinen Haaren sowie an den Blättern der am Abhang stehenden Bäume. Es roch nach Neuanfang, Natur und einer Süße, die schon den ein oder anderen einen Schritt zu viel hatte gehen lassen. Auch ich wäre der Verlockung beinahe erlegen und in den Abgrund gestürzt. Mein Vater nannte es die Quelle einer Magie, die aus den Säulen kanalisiert hervorsprudelte. Alle paar Hundert Meter sah man einen dieser stählernen Pfeiler. Sie ragten weit in den Himmel und aus ihren Spitzen sprühte ein perlmuttfarbenes Netz hervor, das ganz Alberos überzog. Die ‹Letzte Hoffnung›, wie das Tribunal das Konstrukt zu nennen pflegte. Es verband die vier Erdplatten miteinander und doch bröckelte es gelegentlich an der ein oder anderen Stelle. Es sei nur eine Frage der Zeit, sagte mein Vater, bis wieder ein Stück Land abbrechen und im Nirgendwo verschwinden würde. Diesen Pessimismus teilte ich nicht. Der Verfall ging so langsam voran, da konnte es sich auch um Zufall handeln.

Verließ man den Wald in die entgegengesetzte Richtung, brauchte es noch einige Kilometer über das flache Land, durch Flüsschen und Haine, bis man schließlich zur Hauptstraße kam. Sie begann als Trampelpfad hoch im Norden bei den entlegenen Siedlungen, wurde zu einem befestigten Schotterweg, der die Dörfer mit Ahern verband, und windete sich dann als gepflasterte Straße bis zum Zentrum unserer Welt – dem Tribunal. Nicht, dass ich diesen Weg jemals gegangen wäre. Das letzte Mal, dass ich mich weiter von der Hütte entfernt hatte, als meine Füße es mir erlaubten, lag neun Jahre zurück. Nur dumpf erinnerte ich mich an das Leben außerhalb unseres kleinen Kokons und meine Eltern vermieden es, uns den Mund dahingehend wässrig zu machen.

Die Dusche oben im Bad verstummte und ich landete mit meinen Gedanken wieder im Hier und Jetzt. Energisch drehte ich den Hahn auf. Lauwarmes Wasser quoll in die Spüle und ich begann mit dem Abwasch.

 

Kurze Zeit später hatte ich Ordnung in unsere Küche und den kleinen Wohnraum gebracht. Den Esstisch behielt ich gedeckt, nur für den Fall, dass unsere Eltern später noch hungrig sein sollten. Der Eintopf stand auf dem Herd und ich legte abermals Brennholz nach, damit er sich in der Nacht schneller anwerfen ließ. Man wusste ja schließlich nie. Paps’ grüne Lieblingsdecke lag ordentlich gefaltet auf dem zerschlissenen Ohrensessel vor dem Kamin. Rufus, unser einäugiger Fuchs, lugte blinzelnd aus seiner Höhle unter dem Sessel hervor und ich schnalzte leicht mit der Zunge. Es wurde Zeit, ins Bett zu gehen. Als Reaktion gähnte Rufus nur herzhaft. Dabei zeigte er die Spitze seiner rosigen Zunge und eine Reihe kleiner, doch scharfer Zähne. Ich löschte diverse Öllampen und Rufus trottete unter dem Möbelstück hervor zur Eingangstür. Während ich mich zu Liam ins warme Bett kuscheln würde, begann für unseren pelzigen Freund die Jagd. Ich ließ ihn nach draußen und schlich die Holzstufen leise hinauf ins Obergeschoss. Auf der obersten Stufe blieb ich kurz stehen. Neben unserem eigenen Schlafzimmer und dem Bad befand sich das Zimmer unserer Eltern. Ich warf einen Blick durch die offene Tür auf das ordentlich gemachte Bett. Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Sie mussten einfach nach Hause kommen. Ich drehte mich wieder zurück und schob, nach einem kurzen Abstecher ins Bad, die Holztür unseres Zimmers auf. Doch entgegen der Hoffnung, dass Liam bereits selig schlief, fand ich meinen Bruder mit erwartungsvollem Gesicht unter der dicken Bettdecke liegend.

«Erzähl mir noch eine Geschichte zum Einschlafen.»

«Meinst du nicht, dass du dafür langsam zu alt bist?»

«Mama erzählt mir immer eine Geschichte», Liam zog schmollend die Lippe zusammen. Ich gab nach. Zumal ich auch nichts Besseres zu tun hatte, als meinen eigenen trüben Gedanken nachzuhängen.

«Also gut, welche Geschichte willst du hören?»

«Erzähl mir vom Untergang unserer Welt.» 

«Also gut, dann kuschele dich mal tiefer in deine Decke und mach mir ein bisschen Platz.»

Liam rückte nur zu gerne näher an die Wand heran, sodass für mich ein Streifen auf der Matratze frei wurde. Ich schlüpfte zu ihm ins Bett und löschte das Licht. Liams erwartungsvolles Atmen war das Einzige, was die Stille des Raums durchzog.

 

«In den ältesten Aufzeichnungen der Baumläufer wird von einer Zeit berichtet, in der es eine ausbalancierte Aneinanderreihung von unzähligen Erdplatten gab, die jegliche Formen von Zeit und Raum miteinander verbanden. Manche Dimensionen waren durch offensichtliche Brücken miteinander verbunden, andere blieben für fremde Kulturen unerreichbar. Einige Existenzen sahen sich gegenseitig unmittelbar über die Grenzen ihrer eigenen Welt hinweg, andere lebten unwissend in ihrem eigenen Kosmos nebeneinander her. Was diese Welten – so fremdartig in ihrer Ausgestaltung und doch in ihrer Existenz vereint – so offensichtlich verband, blieb für unsere Ahnen lange ein Rätsel. Gewiss war allein das ewige Blau – die Atmosphäre, die uns alle umgibt. 

Doch irgendwann zerbrach dieses ungreifbare Miteinander. Den ersten Völkern reichte es nicht mehr aus, nur auf ihrer eigenen Platte zu leben. Reisende berichteten von unfassbaren Errungenschaften diverser Kulturen: Es gab Elektrizität und bahnbrechende Erfindungen in der Technik, kaum vorstellbare Magie und furchteinflößende Naturelemente. Fremdartige Wesen, die es zu erkunden galt – und Landschaften, die einen zu Tränen rührten. Die ersten Neider spähten nach rechts und links. Sie sahen, dass es in der Ferne fruchtbarere Felder gab, größeres Vieh oder mehr Sonnen, die die Ernten erträglicher machten. Die Missgunst nahm überhand, und so zogen die ersten Völker los, um die nächstgelegene Erdplatte für sich zu gewinnen. Es dauerte nicht lange und die Grenzen begannen sich zu vermischen. Brücken wurden gebaut, magische Bande gesponnen und Flugobjekte genutzt, um den Rand der nächsten Welt zu erreichen. All diese Mühen verbanden die Sphären, die Platten und deren Kulturen, bis es kam, wie es kommen musste: Zunächst dehnten sich nur kleine Konflikte aus; nach einigen spannungsgeladenen Jahren begann sich die Atmosphäre in so mancher Welt zu verändern. Die Lebensbedingungen auf der betroffenen Erdplatte kippten, andere Landstriche wurden freiwillig von ihren Bewohnern verlassen. Territoriale Konflikte begannen, blutige Kriege wurden geführt und Flüchtlinge strömten in die entfernten Gefilde. Die Verteilung der Bevölkerung verschob sich immer stärker auf die letzten verbliebenen friedlichen Flecken; das Gleichgewicht geriet aus den Fugen, die ersten Erdplatten bröckelten und verschwanden letztendlich ganz. Einige Welten isolierten sich bewusst vor dem Eindringen hilfesuchender Menschen und waren bald nicht mehr gesehen. Ein Kosmos zerfiel nach dem anderen und niemand wurde der Lage Herr. Zumal sich die entfernter liegenden Dimensionen entweder in Sicherheit wogen und untätig blieben, oder von den Tumulten gar nicht erst etwas mitbekamen. 

So ging das Elend weiter, bis irgendwann nur noch sechs Erdplatten übrigblieben. Sie bildeten einen Kreis, dessen Form in seiner neuen Anordnung ausbalanciert zu sein schien. Hoch im Norden fand man die Eisigen Ebenen, Heimat der weißen Bären und Wolfsrudel, die im Südosten an die Dunklen Lande grenzten. Tiefste Temperaturen beherrschten den Alltag und Fremde überlebten in den schneidenden Winden nur wenige Stunden. Schaffte man es, die Gletscher und Eisplatten zu durchqueren, gelangte man über eine massive Stahlbrücke in die Dunklen Lande. Man munkelte, dass auf der Hälfte der Brücke der Eisregen nachließ und nach einem Atemzug in der neutralen Sphäre die trockene, staubige Luft der Dunklen Lande begann. Über dieses Land selbst gibt es nicht viel zu berichten. Es galt als trostlose, vulkanige Ödnis, deren einziger Mehrwert darin bestand, dass Reisende über sie in den Süden gelangten. Der Umschlagspunkt wurde einseitig von den Echsenreitern kontrolliert, die die Passagen der Reisenden in ihre eigene Sphäre mit Argusaugen bewachten. Bestieg man eine der Kreaturen, die mit wenigen Flügelschlägen die blauen Grenzen zwischen den Erdplatten zu überqueren vermochten, gelangte man in die sanft wogende Savanne des Südkaps. Hitze hatte das Land ausgedörrt; Kakteen und gelbes Gras prägten die Landschaft. Aber die Ruhe täuschte. Neben den riesigen Echsen lebten hier kleinere Artgenossen, deren giftiges Gebiss den Echsen gleichkam. Jene, die den zahlreichen Gefahren dieses Landstrichs entkamen, erwarteten im Westen die Hundert Hängebrücken, die hinüber zur Leuchtenden Platte führten. Das Land war strahlend, von drei Sonnen erhellt, und voll von weiß glitzerndem Sand und Gestein. Riesige Palmen ragten in den lilafarbenen Himmel und lieferten ihren Bewohnern Schatten. Bunte Vögel in jeder Farbe und Größe dominierten das Bild und ihr lieblicher Gesang ertönte bis über die Weltengrenze hinaus. Doch so schön der Anblick auch war, außer den magiegeladenen Vögeln (und dem vereinzelten Fischfang) bot das Land seinen Bewohnern nur wenig. Die, die es schließlich zur vorletzten Platte zog, führte der Weg zu den grünen Wäldern und Wiesen der Baumläufer. Sanfte Hügel und Täler sowie eine rege Waldtierschar prägten den Kosmos, dessen Harmonie in der Luft vibrierte. Das Land der Baumläufer schloss den Kreis gen Norden hin zu den Eisigen Ebenen und es existierte nur eine Platte, deren Präsenz an alle weiteren Ufer grenzte: die Schreiende See. Im Zentrum gelegen, brandete sie an jegliche Küsten und ließ keinen Platz für Sphären und Grenzen. 

In dieser speziellen Anordnung argwöhnten die Bewohner dem Frieden. Sie waren gezeichnet von den ewig währenden Kämpfen der Vorjahre und der Sorge um den Verlust ihrer Welt. Doch das Gleichgewicht schien zu halten. Keine der Platten bröckelte, solange ein jeder friedvoll auf seiner eigenen blieb. Die Zuversicht gewann, man schwor sich Frieden, schloss eine Allianz und vertraute auf das Wort der anderen Weltenbewohner. Doch wie so oft geriet die Gefahr in Vergessenheit. Jahre zogen ins Land und persönliche Gelüste drangen zurück in den Vordergrund. Aber es hielt sich die Waage, bis eine einzelne Tat das Konstrukt ins Wanken brachte. Der Fürst der Dunklen Lande neidete dem Westen das Licht und war nicht länger gewillt, die Trostlosigkeit seines Kosmos zu akzeptieren. Er nutzte einen offiziellen Besuch bei den Echsenreitern als Vorwand, um die Erbin des marmornen Throns zu entführen und sie als Druckmittel zu verschleppen. Die Empörung der Platten war groß, ebenso die Angst vor neuen Konflikten. Der Anführer der Echsenreiter fühlte sich in seiner Gastfreundschaft ziemlich verraten und schwor, die Erbin der Leuchtenden Platte – notfalls mit Gewalt – in ihr angestammtes Reich zurückzubringen. Aus Angst vor neuem Ungleichgewicht und dem Verlust ihrer Welt beschworen ihn die anderen Völker jedoch, sich lieber auf einen Handel einzulassen. Die Erbin der Leuchtenden Platte sollte gegen die wertvollste Brut des steinigen Landes eingetauscht werden: das Ei des weißen Königsvogels. Die Bewohner des glitzernden Staates waren empört, fühlte man sich von den anderen Platten im Stich gelassen. Unter dem Druck und der Sorge um ihre Erbin, stimmten sie der Vereinbarung aber zu. Dravos von den Echsenreitern zog los und tauschte Ei gegen Erbin – damit nahm der Schaden erst seinen Lauf. Die anderen bunten Vögel folgten dem Ruf des Eis’, kaum, dass der alte Königsvogel von ihnen wich. Sie verschwanden im ewigen Blau, ohne die Dunklen Lande jemals zu erreichen. Mit den Vögeln verging auch das Licht der Leuchtenden Platte. Die Magie lief lautlos aber stetig aus der glitzernden Insel und hinterließ eine Leere, die sich mit nichts füllen ließ. Die Felsen wurden stumpf, der Himmel trüb. In den Dunklen Landen hingegen verkümmerte das wertvolle Ei und zerfiel letztendlich zu Staub. Doch als wäre das nicht Tragik genug, stand der Höhepunkt des Konflikts erst bevor. Die Echsenreiter sahen den Dunklen Fürsten als Ursache des Übels an und befanden die anderen Platten als zu schwach, dagegen vorzugehen. Sie fielen in die Vulkanlandschaft ein und vernichteten, was sie im Zwielicht fanden. Das Gleichgewicht begann zu wanken. Die Leuchtende Platte und die Dunklen Lande bluteten aus – jedes Land auf seine Weise. Sie fingen an zu verschwinden, ganze Landstriche brachen ab und drifteten ins unendliche Blau. Wer konnte, rettete sich auf die nächstgelegenen Landstriche; für all jene, die blieben, gab es keinerlei Hoffnung. Eilig setzten sich die Anführer der verbliebenen Platten zusammen und gründeten ‹Das Tribunal›, durch dessen geballte Macht die Platten fixiert werden sollten. Magier, Ingenieure und Wissenschaftler jeglicher Völker arbeiteten Tag und Nacht, bis sie ein Netz erschaffen konnten, dessen Kraft jener der Elemente trotzte. Sie nannten es ‹Die letzte Hoffnung›.»

Die Welt der Amulette

Das Südkap

Das Südkap ist - wie der Name schon verrät - der südlichste Teil der Amulette. Es ist die Heimat der Drachen und Echsenreiter und von Hitze geprägt. Neben dem Araton Gebirge, das das Land durchzieht, finden sich hier Savennen und Kakteenfelder. Die Atmosphäre des Südkaps lässt Technik zu, dennoch fokussieren sich dessen Bewohner unter Fürst Dragan auf ihr Element anstatt sich dem Fortschritt hinzugeben.

Das Element

Das Element der Echsenreiter ist das Feuer, das sich nach der Initiierung in ihren rot gefärbten Pupillen zeigt. Sie können Hitze regulieren und haben selbst eine hohe Körpertemperatur. Ihre Haut ist fest und nur schwer zu durchdringen.

Alberos

Alberos ist das Westlichste der Amulette. Die zumeist flachen Landstriche sind dicht bewaldet oder von Wiesen geprägt. Alberos ist die Heimat der Baumläufer, dem friedvollsten Volk unter den Amuletten. Sie leben in kleineren Gemeinschaften, die demokratisch aufgestellt sind. Technik funktioniert auf diesem Amulett nur begrenzt, dafür konzentrieren sich die Bewohner auf die Magie der Natur.

Das Element

Das Element der Baumläufer liegt in der Verbundenheit mit der Natur. Pflanzen gedeihen unter ihren Händen und ihre Wirkungen werden mittels Runen verstärkt. Merkmal der Baumläufer sind dunkle Haare und moosgrüne Augen. Darüber hinaus verfügen sie über flinke Beine und einen scharfen Blick.

Die Eisigen Ebenen

Die Eisigen Ebenen befinden sich nordöstlich des Südkaps und könnten nicht gegensätzlicher sein: Eisige Winde durchziehen das unwirtliche Land und machen das Überleben für Fremde fast Unmöglich. Geführt von einem König leben die Bezwinger der Eisebenen Schulter an Schulter mit Eisbären und Wölfen in diesem rauhen Klima. Die Technik wird hier in Maßen genutzt.

Das Element

Das Element der Bezwinger ist das Eis, das ihre Haare nach der Initiierung weiß und deren Spitzen blau färbt. Sie verfügen über eine hohe Kälteresistenz. Unter den Völkern des Amuletts leben sie am abgeschiedensten.

Die Schreiende See

Die Schreiende See liegt in Mitten aller Amulette und verbindet die Landstriche miteinander. Stürmische Bedingungen zeichnen das Leben der Clans auf ihren Schiffen und Plateaus aus. Die Technik hat in dieser Atmosphäre so gut wie keine Chance.

Das Element

Das Element der Echsenreiter ist das Feuer, das sich nach der Initiierung in ihren rot gefärbten Pupillen zeigt. Sie können Hitze regulieren und haben selbst eine hohe Körpertemperatur. Ihre Haut ist fest und nur schwer zu durchdringen.