Der Zirkel der Ordnung - Die Verschwörung

Suzanna muss ihr Schuljahr in Wyoming Hals über Kopf unterbrechen und ein Gap Year in Deutschland antreten – und das ausgerechnet vor ihrem Abschluss. Warum, das ist ihr und ihren mitreisenden Geschwistern Marvin und Milli schleierhaft.

Als wäre das nicht schon genug Aufregung, sieht sich Suzanna bald mit weiteren Herausforderungen konfrontiert. Wieso schimmert die Haut einiger ihrer Mitmenschen in den verschiedensten Farbnuancen? Was hat es mit dem mysteriösen Mordanschlag auf sich und wer ist der Zirkel der Ordnung?

Ehe Suz sich versieht, stürzt sie sich mit David, Marvins überaus attraktivem Gastbruder, in die ersten Nachforschungen, während sie doch eigentlich versucht ihre neue Freundin Steffi unter die Haube zu bringen. Und dann ist da noch Andrii, der sie mir nichts dir nichts um den Finger wickelt. Doch nicht nur ihr Herz gerät ordentlich ins Stolpern. Unbewusst begibt Suzanna sich und ihre Geschwister in größere Gefahr, als ihr lieb ist.

Leseprobe

Polen, Ende Dezember

Es war dunkel und dichte Schneeflocken tanzten im Dämmerlicht am Fenster vorbei. Sie hatten das spärliche Licht nach einer kurzen Inspektion der verstaubten Zimmer direkt wieder ausgeschaltet. Auf diese Weise konnten sie aus dem Inneren ihrer Blockhütte die dunkle Umgebung besser im Blick behalten und die alte Behausung wirkte von weitem weiterhin leer und verlassen. Sie mussten schließlich auf Nummer sicher gehen. 

Die ganze letzte Woche hatte es geschneit, so dass der Weg vor dem Haus sowie die niedrigen Büsche des Vorgartens von dichtem Weiß bedeckt waren. Von ihrem Posten am Fenster des kleinen Hauptraums aus konnte Jekaterina die im Sommer saftige, grüne Wiese hinter dem Vorgarten erahnen, von der nun jedoch nichts mehr unter der geschlossenen, weißen Decke erkennbar war. Auch ihre Spuren hatte der Wintereinbruch seit ihrer Ankunft vor knapp drei Stunden – Gott sei Dank – verwischt. Doch das dämmernde Zwielicht machte es ihr zunehmend schwerer, den Waldrand hinter dem leuchtenden Untergrund im Blick zu behalten. Ihr rechtes Auge zuckte nervös vor Konzentration; sie musste blinzeln. Die Schemen der Bäume verschwanden. Angestrengt rieb Kat sich die müden Augen, starrte schnell wieder hinaus. Es war schließlich ihre Aufgabe zu überprüfen, ob ihnen jemand gefolgt war. Sie konnte sich keinen Fehler leisten. Nicht, nachdem sie in der letzten Woche so kläglich versagt hatte. 

Dabei war ihr alles so einfach erschienen. Sie war bereits vor Monaten informiert worden, dass eine neue Zelle in Moskau eintreffen würde. Evgeni und sein Team waren im Rahmen einer groß angekündigten Kunstauktion als reiche, potentielle Kaufinteressenten nach Russland gereist. Die renommierte Galerie hatte den schneidigen, jungen Mann in diesem hochpreisigen Segment nur zu gern auf die Gästeliste gesetzt. Die anstehenden Geschäftstermine schienen nur natürlich, sodass einer Verlängerung des Aufenthalts nichts Verdächtiges anhaftete. Als Königstreue und Mitglied des russischen Föderationsrats konnte Jekaterina sich in den gleichen Kreisen wie Evgeni bewegen, ohne dass eine Kontaktaufnahme auffällig gewesen wäre. Nicht, dass dies bis vor kurzem notwendig oder üblich gewesen wäre. Man informierte sie lediglich, wenn eine Zelle kam, damit ihr keine unangenehmen Überraschungen bevorstanden. Schließlich hatte der Inlandsgeheimdienst FSB seine Augen und Ohren überall – Jekaterina war lange genug Teil dieses Spinnennetzes, um zu wissen, wann man sich besser bedeckt hielt. Es waren schon ganz andere in brenzlige Situationen geraten, ohne dass sie Teil eines ausländischen Machtsystems waren. 

Dieses Mal jedoch hatte die Lage eine Kontaktaufnahme erfordert. Die Informationen, die sie zusammengetragen hatte, waren so ungeheuerlich, dass sie selbst in den eigenen Reihen niemandem mehr traute. Doch wie sollte sie sicherstellen, dass die Beweise unverzüglich ins Hauptquartier des Zirkels gelangten, bevor es zu größeren Schäden kam? Evgeni kannte sie flüchtig von früheren Einsätzen und da seine Abreise kurz bevorstand, musste Kat das Risiko eingehen und mit ihm kooperieren. Er würde die notwendigen Informationen und Beweise diskret und unverzüglich in die richtigen Hände geben, schließlich war genau dies sein Job: Informationen über Regierungen, lokale Kräfte und Gruppierungen zu sammeln und deren Versuch der ausländischen Machtmanipulation für den Königsmacher auszukundschaften. 

Doch ihr Treffen war aufgeflogen. Jemand musste dem FSB verraten haben, dass westliche Spione kurz vor der Ausreise standen – und dieser jemand hatte ihren Standort gleich mitgeliefert. Hätte Benjamin sie nicht kurz vor ihrem Eintreffen im Café angerufen und informiert, dass Sergej Beljajew, russischer Botschafter des asiatischen Zirkels und ebenfalls Mitglied des Föderationsrats, wutschnaubend vor ihrem Büro stünde, hätte man sie vermutlich geschnappt. Die weiteren Informationen, die ihr der Assistent zukommen ließ, führten zu der Erkenntnis, dass es irgendwo ein Leck geben musste. Entsprechend wartete sie vor dem Treffpunkt geistesgegenwärtig in ihrem Mietauto und wurde Zeugin des Inlandsspionage-Einsatzes, der ihren Plan in Luft aufgehen ließ. 

Jetzt, Stunden später, saß Kat mit ihren Reisebegleitern im Nirgendwo. Sie konnte nur hoffen, dass sie es bis nach Brüssel schafften. Jeder Zugang wurde bewacht, damit sie ihre Angreifer im besten Fall frühzeitig erspähen und noch fliehen konnten. Kat bewachte das seitliche Fenster des heruntergekommenen Wohnzimmers, Benjamin saß im schmalen, muffigen Flur nahe der Eingangstür und Baptiste überwachte die Hintertür. Viel mehr Zugänge gab es nicht. Gut, Benjamin war als Außenstehender das schwächste Glied in der Kette und würde nicht wirklich etwas gegen mögliche Verfolger bewirken können. Er wusste ja noch nicht einmal, in was für ein Schlamassel er eigentlich hineingeraten war. Umso erstaunlicher, dass er sich ihr angeschlossen hatte. Aber die Tatsache, dass ihre Widersacher durch die Eingangstür hereinspaziert kamen und direkt auf ihren Assistenten stießen, war wohl eher unwahrscheinlich. Ihre Schwachstelle war der tote Winkel auf der linken Hausseite, an der es schlichtweg kein Fenster gab. Keiner von ihnen würden es bemerken, wenn sich ihre Verfolger von dort anschlichen. Aber auch hier bot sich nur die Hintertür als möglicher Einstieg an. Bedauernd verzog sie das Gesicht. Gerade bei Benjamin tat es ihr leid, ihn in diese Gefahr gebracht zu haben. Der Gute war schlicht zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen und grundsätzlich zu loyal. Aber sie konnte es sich im Moment leider nicht leisten, Rücksicht zu nehmen. Es stand zu viel auf dem Spiel!

Ein Knarren und Scheppern im hinteren Teil der Hütte ließ sie zusammenzucken. Sollte sie nachschauen? Unsicher blickte Kat kurz zu der Tür des kleinen, holzvertäfelten Zimmers, bevor sie sich wieder dem Fenster zuwandte. Nein, es war Baptistes Aufgabe, die Hintertür an der Küche im Blick zu behalten, und sie vertraute dem kleinen, drahtigen Mann. Sie durfte ihre Position nicht verlassen, das hatte er ihr eingebläut. Wenn jemand eingedrungen war, dann war es sowieso schon so gut wie vorbei. Ihre Chance lag allein in der Flucht, nicht in der Konfrontation. Denn egal wer letztendlich hinter ihnen her war, Kat rechnete nicht damit, dass einer von ihnen lebend aus der Sache herauskam, sollten ihre Verfolger sie tatsächlich erwischen. Sie lauschte, konnte jedoch kein weiteres Geräusch ausmachen. So ein Hirngespinst, die Anspannung der letzten Tage lässt dich schon paranoid werden, schalt sie sich ärgerlich innerlich selbst. Ihr operatives Training lag einfach schon viel zu lang zurück und sie hatte in Moskau bequem gelebt. War die Nacht erst überstanden, waren sie fast in Sicherheit. Zumindest hoffte Jekaterina dies. Die Grenze lag nicht mehr weit vor ihnen und den unwirtlichsten Teil ihres Weges hatten sie bereits hinter sich – stets bemüht unauffällig zu bleiben und jede größere Ortschaft zu meiden. 

Von Moskau aus hatten sie die Bahn genommen, um Richtung Smolensk zu fahren. Zig Mal waren sie umgestiegen, hatten sich getrennt und einen Teil der Strecke zu Fuß oder per Anhalter zurückgelegt. Etwas anderes war ihnen auch gar nicht übrig geblieben. Die Pässe hatte Kat in der Hektik nicht mehr aus ihrem Appartement holen können, sodass ein Flug für sie unmöglich gewesen war. Stattdessen hatte Benjamin sie mit ihrem Notfallrucksack, den sie im Wandschrank ihres Büros aufbewahrte, am Hauptbahnhof abgeholt. Er hatte keine Fragen gestellt und war einfach mitgekommen. Am Bahnhof war dann auch Baptiste zu ihnen gestoßen, der es irgendwie geschafft hatte, als Einziger aus Evgenis Team dem Eingriff des FSB im Café zu entkommen. Entsprechend war er misstrauisch und rabiat auf sie losgegangen. Beim Gedanken an den harten Griff des Mannes rieb sich Kat unbewusst den linken Oberarm, der sicher mit einigen blauen Flecken versehen war. Nachdem sie den Blender davon überzeugen konnte, dass nicht sie es gewesen war, die die Zelle und somit sein Team verraten hatte, bestand der Franzose darauf, sie ins Hauptquartier zu begleiten. Als letztes verbliebenes Mitglied aus Evgenis Team wollte er ebenfalls Bericht erstatten und möglichst zügig aus der Gefahrenzone verschwinden. 

Gut, ein Mitstreiter mehr oder weniger konnte nicht schaden, und so waren sie zu dritt losgezogen. Baptiste kannte – im Gegensatz zu Benjamin – immerhin das System und kam aus der Operative, wodurch sich Kat ein bisschen mehr Sicherheit erhoffte. Noch am Hauptbahnhof rief sie über ein Münztelefon ihren Kontakt in Minsk an und man versprach ihnen eine reibungslose Grenzpassage per Auto, sobald sie sich den Beamten als Diplomatin zu erkennen gäbe. Von dort aus würden sie in knapp fünfzehn Stunden Brüssel erreichen – und dieser Teil ihrer Reise wäre eine pure Wohltat im Vergleich zu den letzten Tagen. Soweit der Plan. Doch dazu hatten sie zunächst nach Smolensk gemusst, und das möglichst ohne Spuren. Wenn es nach Bapistes Einschätzung ging, hatten sie das auch einigermaßen hinbekommen. Er hatte den notwendigen Wagen am späten Nachmittag bar in Smolensk in der Nähe der Ulitsa Shevchenko bezahlt und war erst wieder an der Hütte zu ihnen gestoßen. Kat und Benjamin hatten eine andere Route genommen, um mögliche Verfolger abzuschütteln. Jetzt blieb ihr nur noch ihr Bauchgefühl, das sie nicht ruhig werden ließ. Kat seufzte resigniert und betrachtete die weiße Schneedecke. Ihr Bauchgefühl, die Erschöpfung und der einsetzende Schneefall hatten alle drei davon überzeugt, die Nacht vorerst unter diesem Dach zu verbringen, bevor sie im Morgengrauen weiterfahren würden. Kat war sich sicher, dass niemand eine Verbindung zwischen den Sommerferien ihrer Kindheit bei Tante Olga und ihrem aktuellen Unterschlupf ziehen würde. Trotzdem, eine Spur Sorge blieb. Womöglich war neben dem russischen Inlandsgeheimdienst im Zweifelsfall auch der asiatische Verband hinter ihr her – ganz zu schweigen von den eigenen Reihen. Irgendwer hatte sie schließlich verraten und das konnte nach Kats Erachten nur ein Maulwurf gewesen sein.

Das Schneetreiben vor dem Fenster nahm zu. Kat konnte gerade noch die Büsche des Vorgartens erahnen; alles andere war eine einzige, weiße Front. Seufzend verlagerte sie ihr Gewicht und rieb sich die Oberarme. Sie fröstelte. Zu allem Ärger war ihr linkes Bein im alten Sessel eingeschlafen. Vorsichtig bewegte sie den Fuß, während sie sich nach der alten Wolldecke umschaute, die hier schon herumlag, seit sie denken konnte. Irgendwo musste das Ding doch sein. Ächzend griff sie zu der verstaubten, karierten Decke, die rechts neben ihr über der ausgefransten Ledercouch hing, als sie eine Spiegelung im Fenster überrascht den Kopf Richtung Tür drehen ließ. So ein verfluchter Mist! Sie hätte dem Rumpeln vorhin nachgehen sollen. Hatte sie ihren Gedanken etwa so tief nachgehangen, dass sie nicht mitbekommen hatte, dass jemand ins Zimmer gekommen war? Mühsam kniff sie die Augen zusammen, um den Schemen besser erkennen zu können. Kat erblich, als der Schatten im Raum immer näherkam und schließlich deutlicher wurde. Das war es, sie würden es doch nicht schaffen. Wer warnte denn jetzt den Königsmacher? Die Frage schoss ihr noch durch den Kopf, als sich der Schatten erhob und die Dunkelheit sie umhüllte. Das Letzte, was ihre Augen in diesem Leben sahen, war die schwere gusseiserne Pfanne, die mit Lichtgeschwindigkeit auf sie zuraste.

Wyoming, Anfang Januar

Sehr geehrte Strateginnen und Strategen,

mit großem Bedauern müssen wir bereits zu Beginn des neuen Jahres einen Verlust in den eigenen Reihen melden. Unsere Repräsentanz in Moskau ist leider in der vergangenen Woche gewaltsam aus dem Leben gerissen worden. 

Mit Blick auf die bisher bekannten Umstände gehen wir davon aus, dass es sich um eine lokale Unruhe handelt, die wir schnell eindämmen und beheben können. Entsprechend besteht keine akute Gefahr für die anderen ausländischen Repräsentanzen. 

Nichtsdestotrotz kommunizieren wir offen, dass unser Verhältnis zum asiatischen Verband momentan angespannt ist. Unter Umständen werden Sie mit Ressentiments der lokalen Vertreter an ihrem Standort rechnen müssen. 

Wir müssen sicherlich nicht betonen, wie dringlich Ihre Kooperation vor Ort ist, damit sich die Wogen schnell glätten.

Hochachtungsvoll

Der Königsmacher

Hannes Kleeberg zerknüllte das offizielle Schreiben in seinen Händen, bevor er es in den lodernden Kamin warf. Bei der herrschenden Kälte war das gute Ding allabendlich in Betrieb, sodass schon das ein oder andere eingetroffene Papier hier verheizt worden war. Die Nachrichten beunruhigten ihn und der letzte Brief war nun der berüchtigte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen zu bringen drohte. Vom Mord an Kat hatte er bereits durch seine Kontakte in Europa erfahren. Wobei sich «lokale Unruhen» sicher nicht in Einklang mit dem bringen ließen, was ihm von Jekaterinas Fund berichtet worden war. Der Mord selbst war natürlich bedauerlich, doch jeder, der in dem Zirkel mitwirkte, wusste, dass die damit verbundenen Aufgaben risikobehaftet waren. Was Hannes indessen viel mehr beunruhigte, waren die negativen Nachrichten, deren Summe einfach nicht abreißen wollte: Die Zelle in London hatte die Abspaltung der Insel schon lange vorausgesagt, aber jetzt drangen ähnliche Nachrichten aus anderen Hauptstädten Europas zu ihm. Diese Informationen waren bisher zwar nur bruchstückhaft, da das Ressort Spionage nicht in seinen Verantwortungsbereich fiel, aber sie vermittelten ihm einen groben Überblick der aktuellen Brandherde, mit denen der Zirkel zu kämpfen hatte. Hinzu kamen nun der Tod von Jekaterina Shelkhjev, die verschwundene Zelle in Russland, Spannungen mit dem asiatischen Verband, die Notwendigkeit, einen neuen Königstreuen in Moskau zu platzieren, und die internationalen, ständig schwelenden Spannungen zwischen Nord- und Südamerika, die ihn persönlich betrafen. Zudem standen in naher Zukunft auch wieder Wahlen innerhalb der einzelnen Länder Europas an, die die nationalistischen Strömungen und Unruhen, die zurzeit aufkeimten, sowie die herrschenden Pandemie-Ängste nur schwer ausblenden konnten. Stimmungsmache hatte die Wahlen schon häufig beeinflusst und mit zunehmender Meinungsbildung im Netz wurde die Aufgabe der Zirkel stets nur noch erschwert. Hannes wusste, dass auch andere Zirkel mit diesen Problemen kämpften, doch gerade die Instanz Europa bestand aus souveränen Staaten und war auf die Kooperation jedes einzelnen Landes angewiesen. Die kaum zu kontrollierende Informationsflut und -verbreitung im World Wide Web kam ihnen da ebenfalls nicht zugute. Falschmeldungen, Mobilisierung der System-Gegner, Hysterie … Er seufzte tief. Sie kämpften mal wieder an zu vielen Fronten mit zu wenig Leuten. Dazu kam der notwendige Wandel, den sie gerade durchliefen. Alte Strukturen mussten aufgebrochen und Nachwuchs rekrutiert werden. Aber wann kamen schlechte Nachrichten schon gelegen? Er ging zu seinem Schreibtisch und rief seinen Sekretär an. Es wurde Zeit, tätig zu werden. Seine persönliche Beziehung zu Jekaterina erschwerte die Situation zusätzlich und er musste die Gefahr eingrenzen. Dustin würde alles Notwendige in die Wege leiten.



 Es kommt immer alles anders und zweitens als man denkt

Freitag, 10. Januar – Wyoming Airport

Suzanna seufzte genervt, klappte ihr Buch zu und schob sich die Noise-Cancelling-Kopfhörer in den Nacken. Sie hatte nicht wirklich Musik gehört, aber gehofft, so den Anschein absoluter Beschäftigung zu erwecken. Wann wäre es schließlich angebrachter gewesen sich seinen Grübeleien hinzugeben, als heute, dem Tag, an dem sie Hals über Kopf von ihrem Vater außer Landes organisiert wurden? Und ohne Kopfhörer hätte sie Millis aufgeregtem Geplapper niemals entkommen können. So war es nur ein dumpfes Plätschern, das sie leicht hatte ausblenden können, während sie das Rollfeld des kleinen Flughafens betrachtete und ihren Gedanken nachhing. Durch die fehlende musikalische Ablenkung hatte sie allerdings mitbekommen, dass ihr Bruder vor einigen Minuten sein Handy rausgeholt und wie wild zu texten begonnen hatte. War ja klar, jetzt konnte sie wieder die Rolle der Spaßbremse einnehmen.

»Marv, pack das Handy weg! Wir sollten es überhaupt nicht mitnehmen, das hat uns Dad doch echt eingeschärft. Es gibt nur wieder Ärger, wenn Mum und Dad mitbekommen, dass du vom Flughafen aus getextet hast. Warum wartest du nicht wenigstens, bis wir in Deutschland ein neues bekommen? Dann wäre es ihnen vielleicht noch nicht einmal aufgefallen, dass du dein altes behalten hast.«  

  «Schwesterherz, du magst dein Handy ja gerne abgeben, aber nicht jeder folgt allen Regeln beharrlich. Ich wüsste übrigens gerne, wie Dad überhaupt mitbekommen soll, dass ich es benutze. Und außerdem ist es mir auch völlig egal, was er oder einer seiner Hampelmänner mir vorschreiben. Es ist schon schlimm genug, dass wir drei jetzt hier sitzen. Ich lass mir sicher nicht auch noch den letzten Kontakt zur Außenwelt nehmen.» 

Suz’ 15-jährige Stiefschwester Milli nickte bestätigend, während sie ihr Make-up in dem kleinen Schminkspiegel überprüfte. Es schien alles zu sitzen, denn sie lächelte zufrieden, bevor sie die kleine Schatulle zusammenklappte und Marvin leicht mit dem Ellbogen anstieß. 

«Lass sie, Suz ist immer noch schlecht gelaunt, weil Dad ihr auch nicht mehr gesagt hat als uns.» 

Suzanna sparte sich die spitze Bemerkung, dass dies sicher nicht der Punkt war, sondern sie wieder einmal die Einzige war, die sich an irgendwelche Vorgaben hielt. Stattdessen drehte sie sich blitzschnell in ihrem Sitz nach rechts und riss ihrem Zwillingsbruder das Handy aus der Hand, welches er kurz zuvor noch lässig durch die Luft geschwenkt hatte. 

«Gib es mir wieder, Suz, ich meine es ernst.» 

Marvins dunkle Augen blickten sie genervt an, während er abwartend die Hand ausgestreckt hielt. Sein silberner Schimmer intensivierte sich, als seine Schwester nicht sofort reagierte. Wie immer faszinierte es Suz, wie schnell ihr Bruder durch seinen ernsten Ton und eine leichtveränderte Körpersprache älter und reifer wirken konnte, wenn er nur wollte. Verschwunden war die spätpubertäre Nervensäge, die er Tag für Tag bei seinen Schwestern raushängen ließ. Unbeeindruckt zog sie die Augenbrauen ebenfalls finster zusammen. Ihr war klar, dass sie sich somit vermutlich wie ein Ei dem anderen glichen – der gleiche intensive Blick, die dunklen Augen unter den leicht lockigen, sandblonden Haaren … Doch daran verschwendete sie kaum noch einen Gedanken.

«Vergiss es, ich meine es nämlich auch ernst. Ich gebe es dir gerne wieder, wenn wir in Frankfurt gelandet sind, aber bis dahin halte dich wenigstens einmal an die Ansagen. Mir passt es genauso wenig wie dir, aber die Dringlichkeit ist zumindest bei mir hängen geblieben. Ich weiß zwar nicht, warum wir hier sitzen und was das alles zu bedeuten hat, aber ich vertraue Hannes. Und ohne Grund würde er uns nicht so eindringlich ins Gewissen reden oder uns in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ausquartieren. Ich bin es leid, dass ihr nicht einfach mal mitspielen könnt, anstatt uns nur noch mehr Ärger zu bringen. Ihr setzt immer noch einen drauf, egal wie mies die Situation bereits ist. Vielleicht wären wir in Deutschland gemeinsam irgendwo untergekommen, wenn Dad nicht ständig die Sorge hätte, dass wir zu dritt zu viel Ärger verursachen. Ich habe das Gefühl, euch sind die Konsequenzen immer total egal. Aber ich hänge mit drin!» 

Suz stieß genervt die Luft aus und ließ sich zurück in ihren Sitz fallen, aus dem sie sich erregt vorgebeugt hatte. Ihre Geduld mit den beiden war beinahe aufgebraucht. Seitdem Hannes sie vor zwei Tagen über ihr ungeplantes Auslandsjahr informiert hatte, lagen bei allen die Nerven blank. Am ersten Abend hatten sie ihren Ärger an ihrem Stiefvater ausgelassen, doch im Gegensatz zum Rest hatte sich Suz am Folgetag zusammengerissen. Sosehr ihr dieser Eingriff in ihr Leben widerstrebte, war ihr doch klar, dass Hannes einen guten Grund haben musste. Auch wenn sie ihn nicht mehr so oft sah wie früher, wusste sie, dass ihr Dad sie sicher nicht wegschickte, nur um ihnen das Leben zur Hölle zu machen – soweit nämlich Millis Theorie. Doch egal wie sehr sie ihren Stiefvater zu einer Erklärung gedrängt hatte, er hatte sie im Dunkeln gelassen. Und ja, das wurmte Suz. Sie fühlte sich von Hannes zurückgewiesen. Er hatte ihr sonst immer alles erzählt. Aber das war, wie gesagt, im Moment nicht der Punkt. 

 

Da ihre Geschwister es vorzogen, Suz nach der Nummer mit dem Handy die kalte Schulter zu zeigen, zog sie sich kurzerhand ihre Kopfhörer wieder auf. Das war also der Lohn, wenn man die Wahrheit aussprach. Dabei wüssten Marv und Milli – wenn sie mal scharf nachdenken würden –, dass sie recht hatte. Egal wo sie zu dritt aufkreuzten, es gab immer irgendwelche Probleme. Dabei konnte man noch nicht einmal behaupten, dass sie es darauf anlegten oder sich grundsätzlich in den Haaren lagen. Suz zumindest liebte ihre beiden Geschwister und sie würde ihre Hand dafür ins Feuer legen, dass es umgekehrt genauso war. Ein Leben ohne Marvin konnte sie sich nicht vorstellen, denn egal wie sehr er sie auf die Palme brachte, sie waren wie Topf und Deckel. Suz war sich sicher, dass sie manchmal sogar wusste, was Marvin gerade dachte. Oder es lag einfach daran, dass sie ihn besser lesen konnte, als sie sich selbst verstand. Für sie schimmerte sein Charakter wie ein feines, silbriges Licht in der Haut. Sie wusste, in welchen Bereichen oder Momenten sie zu hundert Prozent auf ihren Bruder zählen konnte und in welchen anderen sie lieber selbst das Zepter in die Hand nahm. Zudem glichen sie sich bis in die Fußspitzen – und das, obwohl sie zweieiige Zwillinge waren. Marvin war sportlich, knapp über 1,90 m groß, hatte mittelblondes, leicht gelocktes Haar und trug dieses zum Bedauern ihrer Mutter immer ein bisschen zu lang, als dass es noch nach dem «netten Jungen von nebenan» aussehen würde. Für die Lässigkeit, die Marvin in der Schule rauskehrte, waren die Haare jedoch unabdingbar. Für Suz bedeutete die Ähnlichkeit mit ihrem Bruder im Umkehrschluss leider, dass sie ebenfalls knapp an die 1,80 m reichte, eher sportlich trainiert als weiblich war und ihre langen Haare kaum schick gestylt bekam. Früher hatte es sie frustriert, dass die männliche Ausführung ihrer Gene scheinbar perfekt war, während sie damit haderte, alle ihre Mitschülerinnen um einen Kopf zu überragen. Heute verschwendete sie nur noch wenig Gedanken daran. Es gab schlichtweg wichtigere Dinge im Leben.

Und dann gab es ja schließlich noch Milli. Hannes Kleeberg hatte Suzannas und Marvins Mutter geheiratet, kurz nachdem seine Tochter drei Jahre alt geworden war. Zwei Jahre zuvor war seine Lebensgefährtin bei einem Autounfall ums Leben gekommen und Suz’ Mutter hatte sich der kleinen Milli nur zu gerne angenommen. Entsprechend erwartete Suz’ jüngeres Ich eine Katastrophe, als die beiden zu ihrer bis dahin überschaubaren Familie dazu stießen. Das kleine, perfekte Mädchen mit den großen, blauen Augen und den dunklen, seidigen Haaren stahl vom ersten Tag an die gesamte Aufmerksamkeit ihrer Mutter. Und obwohl sie ihre neue Schwester kaum kannte, wusste Suz instinktiv, dass die niedliche Zuckerpuppe alle um sie herum gekonnt um den Finger wickeln würde. Schlussendlich hatte sie es auch bei ihr selbst geschafft, wie sie ohne Bedauern zugeben musste. Man konnte sich Millis Art einfach nicht entziehen. Ähnlich wie bei Marvin schimmerte auch Millis Haut munter vor Suz’ Nase herum. Anders als bei Marvin war Millis Licht dagegen in verschiedenen Rot-Schattierungen zu erkennen und weniger beruhigend. Je nach Lust und Laune schien die Kleine in unterschiedlicher Intensität zu flackern, wohingegen Marvin eine konstante, silbrige Sicherheit ausstrahlte. Genauso erging es Suz bei Hannes. Sein dunkelgrünes Leuchten war gedämpft und dezent und gab ihr die gleiche Geborgenheit, wie es auch bei ihrem Bruder der Fall war. Nicht, dass ihr das jemand geglaubt hätte. Hannes hatte ihr nur lachend durchs Haar gewuschelt, als sie als Dreikäsehoch ernsthaft wissen wollte, in welcher Farbe denn sie strahlen würde. Das und einige weitere, nicht nennenswerte Erfahrungen hatten Suz gelehrt, manche Dinge einfach für sich zu behalten. Sie hatte ihre Beobachtung abgehakt und das Schimmern als gegeben hingenommen. Was ihrer Familienzusammenführung schließlich die Krone aufgesetzt hatte, war die Tatsache, dass die Geschwister ihr Zuhause in Deutschland hinter sich lassen mussten, um zu Hannes in die USA zu ziehen. Doch man gewöhnte sich an alles und jeden, und jetzt, viele Jahre später, war es genau diese Rückkehr, die ihr ein unangenehmes Magenkribbeln verschaffte.